Der Gott des Chaos (Matthias Horx)
Versuch, einem schrecklichen Phänomen mit Hilfe der Zukunfts-Regnose zu entkommen.
Mit jedem Anziehen der Schraube macht der Tyrann unsere Hoffnung präziser.
Anne Micheals
Dieser Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von Matthias Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: https://thefutureproject.de/
Stellen wir uns vor, wir würden aus dem Jahr 2050, also in 25 Jahren, auf unsere Gegenwart zurückblicken. Auf eine seltsame, ja bizarre Figur, die sich einmal „Trump“ nannte? Was wäre die Bilanz? Was würden wir aus der Zukunft heraus sehr wahrscheinlich über das Erbe von T. (den Namen wollen wir von jetzt an nicht mehr nennen) formulieren?
Gut gemacht, würden wir sagen.
Er hat es irgendwie hingekriegt.
Das Phänomen T. hat seinen Job erfüllt. Und irgendjemand musste es ja machen.
Wie bitte?
Springen wir zurück in die Gegenwart. In die unordentliche, nervende, verstörende Gegenwart. Ich kenne viele liebe, wunderbare Menschen, die angesichts der „Zeitläufe“ auf eine regelrecht tragische Weise verzweifelt sind. Die die morgendlichen Nachrichten, die vom Ende der Welt as we know it künden, einfach nicht mehr aushalten können. Die angesichts des „Phänomens T.“ zutiefst verzweifeln. Am Leben, am Sinn, an sich selbst. Vor allem an der Zukunft.
Er ist ein tiefer, tiefer Schmerz, der die ganze Welt betrifft.
Viele versuchen immer noch, das T.-Phänomen durch kausale Begründungen und „Ursachen“ zu verstehen. War es die schlimme soziale Vernachlässigung der Leute des mittleren Westens? Aufgeregte Anhänger von WOKE, die ihre Anliegen übertrieben? Was führte dazu, dass viel Frauen, Minderheiten, Latinos, auch noch denjenigen wählten, der sie verachtet? Wer ist, verdammt nochmal, schuld an diesem Unglück? Kamala? Die Fed? Wallstreet? Das Internet? Die unendliche Bösartigkeit und Dummheit des Menschen?
So sehr wir es auch drehen und wenden und grübeln. Mit den Mitteln der Kausalität lässt sich das Phänomen T. nicht erklären. Es macht einfach keinen Sinn. Es ist wie ein Schwarzes Loch im All, eine negative Singularität, die alles in sich hineinsaugt.
Aber vielleicht findet sich gerade aus dieser Betrachtungsweise eine Antwort, die in die Zukunft reicht. Und von dort wieder zu uns zurückkehrt.
Der Dämon
Vielleicht kommt man dem Phänomen T. näher, wenn man sich mit alten Mythen und Mythologien beschäftigt. Zum Beispiel mit Dämonen.
T. ist ein Dämon. In so gut wie allen Kultursystemen der Menschheit gibt es Dämonen. Diese Figuren künden vom uralten Umgang der Menschheit mit Komplexität, Zeit und Chaos. Sie tauchen plötzlich aus dem Dunkeln auf und zerstören den Sinn – die innere Kohärenz der Welt. Sie sind Emanationen negativer Metaphysik.
Auch in der modernen Welt gibt es solche Dämonen. Zum Beispiel in der Harry-Potter-Welt, wo sie als Dementoren die Lebensenergie aus den Menschen saugen. In der Antike waren Dämonen an göttliche Kräfte gebunden. Zum Beispiel die altgriechische Hydra. Dem vielköpfigen Schlangenwesen wachsen jedes Mal zwei Köpfe nach, wenn man einen abschlägt. War es nicht genau so – dass jedes Mal, wenn eine unfassbare Schweinerei von Mister T. zum Vorschein kam, eine moralische Monstrosität, eine dumme Lüge, er triumphal NOCH mehr Anhänger gewann?
In der christlichen Mythologie mit ihren Heiligen und eschatologischen Rettungsmythen ist das Böse, Dämonische in einen mystischen Teufel gebannt, der „in den Dingen steckt“ und ständig zur Sünde verlockt. Dabei handelt es sich meistens um gefallene Engel. Aber das eigentliche Problem ist womöglich, dass das Phänomen T. noch nicht einmal zur Sünde fähig ist.
In der hinduistischen Mythologie, die womöglich viel besser zu unserer turbulenten Jetztzeit passt als das Christentum, gibt es keine echten Götter, sondern eher „Gottheiten“, die keine festen Instanzen darstellen, sondern universelle – und widersprüchliche – Kräfte des Evolutionären abbilden. In der hinduistischen Welt spielt „Der Gott des Chaos“ eine zentrale Rolle. Es gibt gleich mehrere davon, und es sind immer die stärksten. Die Gottheit Kali (Sanskrit, f., काली, wörtl. „Die Schwarze“) ist eine Kraft des Todes, der Zerstörung UND der Erneuerung. Bei ihrer Geburt soll Kali das Weltall mit schrecklichem Brüllen erfüllt haben, das alles erschütterte und in Unordnung brachte. Im Tantrismus heißt Kali Shakti, es ist die weibliche Grundenergie des Universums. Kali gilt als eine der wenigen Göttinnen, die tatsächlich Wünsche erfüllen.
Daneben thront der Elefantengott Ganesha (Sanskrit गणेश „Gefolge”, oder „Herr der Scharen“). Seine Ohren sind riesig, seine Augen klein, sein Blick stechend. Ein kugelrunder Bauch steht für Reichtum und die Fähigkeit alle Erfahrungen zu absorbieren. Und da ist schließlich SHIVA, der genderfluide Tänzer/Tänzerin der Zerstörung (vedische Entitäten sind geschlechtlich divers). Die Gottheit mit den vielen Armen, der für Zerstörung, Chaos UND Erneuerung tanzt.
T. ist der Gott des Chaos.
Ein tanzender achtarmiger Elefantengott der Zerstörung.
Und genau das ist seine Aufgabe.
Sein gottverdammter Job!
Er macht das wirklich ziemlich gut, oder?
Er kann gut tanzen.
Die Chaosmose
Chaosmose benennt eine Verbindung von Chaos und Osmose, also Verbindung – oder Symbiose. Jenen Zustand, in dem aus dem Chaos das Neue als Formung entsteht. Nach Felix Guattari, Paul Strathern und dem elften Studioalbum der schottischen Band Primal Scream. Thank you, Paul!
Ordnung, Komplexität, erzeugt immer auch ein intrinsisches Chaos, das sich irgendwann Bahn bricht. Weil Komplexität – die Ordnung des Vielfältigen – irgendwann an ihre Grenzen stößt. Einen Überschuss erzeugt, der zur Kompliziertheit wird, die sich nicht mehr stabilisieren kann, weil sich die Paradoxien ins unvereinbare Steigern.
Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Es ist nur das Ende einer Epoche.
Der Physikochemiker Ilya Prigogine arbeitete heraus, wie fern von thermodynamischen Gleichgewichten spontan neue Strukturen entstehen. Man nennt das auch Emergenz, oder neues Leben. A living organism is an informed, autocatalytic, non-equilibrium organization….
Ilya Prigogine, What is life? Part 1: Dissipative Structures and Catalysis.
Und so funktionieren auch gesellschaftliche Systeme, Zivilisationen, Nationen, Kulturen. Sie balancieren „on the edge“, an den Zwischenräumen zwischen Struktur und Chaos. Irgendwann kommt es zu Paradoxien die nicht mehr „eingeholt” also integriert werden können. Dann entsteht Chaos, um Erneuerung möglich zu machen.
Diese Transformation braucht „Agenten“, die die Diskontinuität bewältigen und einen neuen Zyklus ins Leben rufen können. Es ist schwer, Fachkräfte für diese Aufgabe zu finden.
Amerika dekonstruieren
Als Superelefant des Chaos hat das T.-Phänomen eine wichtige Aufgabe. Es muss die US-amerikanische Gesellschaft dekonstruieren. Ins Chaos stürzen, damit sie sich regenerieren kann.
Das amerikanische Kultur- und Gesellschafts-System steckt seit langem in tiefen Widersprüchen fest, die sich zu Pathologien verhärtet haben. Das amerikanische Grundnarrativ, der „american dream“, hat sich in einen paradoxialen Albtraum verwandelt, der seine Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt macht.
Da ist etwa die Paradoxie zwischen dem heroischen Freiheitsideal und der Gemeinschafts-Sehnsucht, die ja auch tief im amerikanischen Mythos steckt. We, the people gegen jeder Einzelne muss alles dürfen. Oder der Sicherheitswahn – die Angst vor Gewalt – im Paradox zum grassierenden Waffenbesitz. Oder der klaffende Widerspruch zwischen dem lässigen Gleichheitsgedanken, der tief in Verfassung und Kultur verankert ist, und der extremen Ungleichheit, die durch den Hyperkapitalismus erzeugt und jetzt durch den Anarchokapitalismus à la Musk auf die Spitze getrieben wird.
Eine Gesellschaft, die zu einem großen Anteil von der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte lebt, will eben diese Arbeitskräfte illegalisieren – und dabei noch das Bruttosozialprodukt rasend steigern. Das zentrale Narrativ vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, bricht spätestens dann zusammen, wenn deutlich wird, dass eben nicht ALLE Millionäre werden, sondern nur eine winzige Elite von Quadrilliären, die ständig damit drohen, auf den Mars oder auf steuerfreie Inseln auszuwandern, wenn nicht alle nach ihrer Pfeife tanzen.
Amerika war immer „groß“ und faszinierend, wenn es großzügig war. Wenn es seine Werte universalistisch vertrat, als Zukunfts-Angebot an die Welt. Seine Botschaft, seine Message war die Gleichheit der Verschiedenheit.
„America First“ war in den Gründerzeiten der USA eine hoffnungsvolle Parole des Fortschritts: Amerika sollte die Speerspitze der Freiheit in der Welt, im humanen Fortschritt bilden. „MAGA“, also „Amerika allein zu Haus“, kippt das Ganze in eine nächste Paradoxie. In eine Retrotopie, in der alles wieder so werden soll wie gestern, aber wie es nie war.
Das Prinzip Renaissance
Nach dem italienischen Gesamt-Denker Giambattista Vico (1668-1744) gehen Zivilisationen in zyklischen Abständen durch heroische, dekadente und „menschliche“ Zyklen. Durch einen Prozess der „Wellen und Gegenwellen“ (Corsi et ricorsi) und den Prozess der „Auflösung und Zusammenfügung“ (solve et coagula, die ursprüngliche Formel der Alchemisten) entsteht das stabilisierte Neue – aus einer Verschmelzung des Alten, Bewährten, MIT dem Emergenten, Innovativen.
Neue Epochen entstehen immer aus Rekombinationen. Damit solche Rekombinationen – oder Renaissancen – aufblühen können, müssen zunächst einmal die alten Paradoxien auf die Spitze getrieben und dadurch aufgelöst werden.
Danach entsteht eine neue Epoche, in der sich das Neue zusammenfügt. Sie entsteht aus der Weisheit des Ausgleichs, der Geduld des Wiederaufbaus, und der Kunst der Heilung, der Integration zu einem neuen Ganzen.
Menschen, Zivilisationen, Kulturen durchlaufen immer wieder solche Zyklen. Die Geschichte hat das häufig bewiesen. Zum Beispiel in Deutschland.
Und hier sind wir also. An diesem tragischen, unvermeidbaren, spannenden Punkt der Geschichte. An dem sich das Alte zerlegt, und aus dem Nebel des Chaos in der Ferne ein NEXT AGE sichtbar wird. Eine neue planetare Zivilisation, die noch einen weiten Weg vor sich hat. Die Zukunft rückt derzeit in weite Ferne. Es tut ziemlich weh, das stimmt. Es schmerzt an allen Gliedern und in der Seele. Aber es hat auch eine starke Aussicht.
Also: was würden wir sagen, wenn wir aus dem Jahr 2050 zurückblicken, in regnostischer Weisheit? Danke, T., das war eine echte Leistung. Amerika zu zerlegen, das musste man erstmal schaffen.
Es war auch nicht so leicht, Europa, das immer noch dazu neigte, sich billig zu zerstreiten, in eine selbstbewusste Einigkeit zu manövrieren.
Oder das fossile Zeitalter nach einer Phase des unappetitlichen drillings endgültig zu beenden.
Wie heißt das so schön bei Goethe? „Ich bin die Kraft, die stets das Böse will…“
Irgendjemand musste es ja tun. Du warst, im Wortsinne, großartig!
PS: Noch einige Worte des Trostes
Natürlich beantwortet das noch nicht die Frage, wie wir diese dämonische Zeit unbeschadet überstehen können. Vielleicht kann uns eine weise alte Pop-Ikone Trost spenden. Patti Smith, die uns Boomer vor einem halben Jahrhundert zum Shiva-haften Tanzen brachte. Die Grand Old Lady des Punk schrieb in einer kurzen Notiz nach der Wahl unter dem schlichten Titel „A Few Words“:
Es gibt Zeiten in unserem Leben, in denen wir in den Untergrund gehen müssen. Nicht um uns zurückzuziehen, sondern um uns selbst zu heilen. Unsere Gemeinschaft im Sinne des Guten wieder aufzubauen. Nicht aus Parteilichkeit, nicht aus Eigeninteresse, sondern als mobilisierende Energie, die von Güte angetrieben wird. Das ist keine Rhetorik. Es ist ein Plan. Ich habe heute Morgen mit meinem Nachwuchs angefangen und dann langsam mit Freunden.
Fühlen Sie sich nicht in die Enge getrieben, eingeengt. Lassen Sie sich Ihren geistigen und emotionalen Freiraum nicht von anderen diktieren. Navigieren Sie durch die Welt um Sie herum, so gut Sie können, und leben Sie in der Welt, Ihrer Welt. Das habe ich heute geschrieben. Zurück zur Arbeit.
In der Sprache des humanistischen Futurismus: Unsere Aufgabe ist jetzt, Doing Future. Die Zukunft in der Gegenwart bewahren. Im Kleinen das Große entwickeln. Fangen wir an.
Kommentare
Einen Kommentar schreiben