Als Handwerksbetrieb ein attraktiver Arbeitgeber werden: So geht´s:

In der letzten Ausgabe der „Chrismon“ war ein Artikel zum Fachkräftemangel, der mich sehr begeistert hat. Lauter Handwerksmeister, die ihre Organisation umgestellt haben – nicht nur technisch, sondern Richtung besserer Organisation, angemessenerer Umgang mit Mitarbeitern und Azubis, Akzeptanz von Frauen im Handwerk (ja, die haben auch Kraft!) – kurz: Sie haben eine gute Unternehmenskultur geschaffen!

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Schluss mit dem Rumgebrülle

Und was hilft sonst noch gegen den Fachkräftemangel im Handwerk? Bessere Arbeitszeiten, mehr Frauen, weniger Chaos, weniger Dünkel bei Akademikereltern . . . Wir haben ein paar Ideen unter die Lupe genommen.

Text: Christine Holch
Quelle: https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2023/54202/fachkraeftemangel-so-wird-das-handwerk-attraktiver

Der Beruf Zimmerer an sich ist klasse, aber der Lehrbetrieb war grässlich – so fasst Bo Wehrheim, 31, zusammen, was er erlebt hat. Morgens, wenn der Chef jemanden über den Hof in Richtung Toilette gehen sah, brüllte er: "Ausgschissen zur Arbeit kommen!" Arbeitsrechtlich geht das gar nicht, das wusste Bo Wehrheim schon damals, vor gut zehn Jahren, als er nach dem Abitur die Ausbildung zum Zimmerer machte. Aber ­damals konnte man noch nicht so leicht den Betrieb wechseln wie heute, wo alle händeringend Auszubildende ­suchen. Und wäre es woanders besser gewesen?

Also biss sich Bo Wehrheim durch. Und ertrug weitere Sprüche wie: "Arbeitsschutz ist was für Weicheier." Wer sich beschwerte, wurde angeraunzt: "Bist du ein Zimmermann oder ein Wimmermann?" Dabei mag er das Zimmern: "Man kann so viel anfangen, wenn man Bescheid weiß über Statik, wenn man weiß, wie Strukturen halten." Er hat inzwischen auch schon Theaterkulissen gebaut und eine Kirche. Aber nicht im damaligen Betrieb, sondern in einem Kollektiv von selbstständigen Handwerksleuten.

Früher: "Azubis wurden vor Kunden gefaltet und rasiert"

Der miese Umgang im Handwerk, verharmlosend ­"rauer Ton" genannt, Stephan Rech kennt ihn. Der Geschäftsführer eines Betriebs für Heizung und Sanitär in Kassel hat die Firma von den Eltern übernommen, sein Vater habe noch den alten Führungsstil gelebt: "Da ­wurde angebrüllt, da wurde runtergemacht, Auszubildende ­wurden vor Kunden gefaltet und rasiert." Er habe ein paar ältere Mitarbeiter, "die ticken noch so". Deshalb übt Rech mit den Azubis, Monteuren Rückmeldung zu geben, wertschätzende natürlich.

Der Firmenchef arbeitet am Kulturwandel. Und das muss er auch. Denn Fachkräfte und auch Auszubildende sind mittlerweile so rar im Handwerk, dass sie sich aus­suchen können, wo sie arbeiten. "So einen harten Wett­bewerb um Arbeitskräfte sind die Betriebe nicht gewöhnt", sagt der Ökonomieprofessor Enzo Weber, der am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Arbeitsmarkt­entwicklung untersucht. "Aber dieser Wettbewerb ist was Tolles", es könne doch niemand die Massenarbeitslosigkeit von 2005 zurückwollen.

Enzo Weber kann in fünf Minuten erklären, was auf dem deutschen Arbeitsmarkt los ist: Zwar werden seit Jahren immer mehr Arbeitskräfte gebraucht, gleichzeitig standen bislang aber auch immer noch mehr Arbeitskräfte zur Verfügung – vor allem, weil so viele Menschen zu­wanderten und weil mehr Frauen und Ältere arbeiten.

Der Bedarf wird nicht weniger. Weber zählt auf: Wegen der Alterung brauchen wir mehr Leute für Pflege und Gesundheit, wegen der Energiewende mehr Leute im Handwerk und wegen Kitaausbau und Ganztagesanspruch in Schulen mehr Erziehungskräfte.

Bislang ging das gut: Es gab mehr Arbeit und zugleich mehr Arbeitskräfte. Aber in den nächsten Jahren gehen mehr Menschen in Rente. Um allein den Schwund auszugleichen, müssten jedes Jahr 1,5 Millionen zuwandern. Aus der EU werden nicht mehr so viele Menschen kommen, denn die EU-Länder altern auch, sagt Weber, Polen noch mehr als Deutschland. In Zukunft werden Menschen aus Lateinamerika kommen müssen, aus Asien und Afrika. Eine Herausforderung.

Was noch helfen würde? Zum Beispiel, dass Menschen länger arbeiten können, dass mehr Frauen arbeiten, dass man Technologie einsetzt. Womöglich würden Arbeitskräfte länger im Job bleiben, wenn sie anders arbeiten könnten: flexibler in der Arbeitszeit, kräfteschonend . . .

Anziehend: 4-Tage-Woche und eine gute Unternehmenskultur

Viele Arbeiten im Handwerk sind körperlich anstrengend, sagt Stephan Rech, Chef von Reuse Haustechnik: Mal müsse man sich unter Küchenspülen zwängen, mal ­montiere man schwere Abwasserrohre unter einem Bahnhof oder schließe einen wuchtigen Heizkessel an.

Wie ließe sich das Leben der 40 Mitarbeitenden ver­bessern? Das sollte sein Team selbst herausfinden. Am ­Ende setzte sich der Vorschlag durch, die 37 tariflichen Stunden statt auf fünf Tage auf nur noch vier Tage zu verteilen. In den fünf Stunden am Freitag hatte man eh kaum was geschafft gekriegt: Erst lange Anfahrt zur Baustelle, bis dann alles hingerichtet war, war schon wieder Frühstück und alsbald Rückfahrt. Nun arbeiten sie jeden Tag eineinviertel Stunden länger, nämlich 9,25, haben dafür freitags frei. Der 24-Stunden-Notdienst blieb natürlich erhalten.

"Wir haben den freien Freitag liebgewonnen", sagt ­Stephan Rech. Ein zusätzlicher Tag Erholung und endlich Zeit für Ämter- oder Arztbesuche, für Einkäufe, Sport – und dafür, dass die Kinder mal vom Papa in die Kita gebracht werden. Auch der Chef hat freitags nun frei. Dann geht der 54-Jährige seinem Zweitberuf nach: Er inszeniert und fotografiert Hochzeitspaare.

Es nervt Rech, wenn er danach gefragt wird, ob die Leute nun produktiver sind. Das war nicht das Ziel, sagt er, das Ziel war, dass es den Mitarbeitenden gut geht. Vielleicht sei die Produktivität leicht gestiegen, "aber ich messe das nicht". Viel wichtiger findet er, dass jetzt einen Tag die Woche nicht 40 Personen zur Arbeit fahren – was für eine Entlastung für die Umwelt!

Nun fragen ihn Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen um Rat: Wie man es anstellt, damit es sicher klappt? Er sagt dann: "Frag doch mal dein Team. Rede mit denen! Mal ein bisschen mehr als das Übliche und nicht nur: Hier haste einen Arbeits­auftrag, sieh zu, dass du vom Hof kommst, Zeit ist Geld, hast du das Auto immer noch nicht gepackt?"

Man muss sich auch kümmern um seine Leute

Ja, bei ihm bewerben sich ausreichend Menschen um Ausbildung und Stellen. Aber das liege doch nicht an der Viertagewoche allein! Auch nicht am Jobrad, der Kindergartenbeteiligung oder an der mindestens tariflichen Bezahlung, sondern an der ganzen Unternehmenskultur. Dazu gehöre auch das Kümmern, das teilt er sich mit ­seiner Frau und dem Co-Geschäftsführer: "Sie müssen die Menschen auffangen, wenn die Freundin, der Freund weggelaufen ist, Sie müssen auch den Azubi auffangen, der nicht damit klarkommt, dass die Eltern sich trennen. Sie haben richtig viel zu tun." Erst dieser ganze Mix mache ein Unternehmen attraktiv.

Keine Nachtarbeit - und der ­Bäckerberuf wird attraktiver

Bäcker Markus Steinleitner im niederbayerischen Niederwinkling änderte die Arbeitszeit noch radikaler: Er stellte fast vollständig von Nacht- auf Tagarbeit um. Anders sah er für den Betrieb keine Zukunft. Zuletzt hatten sie ab halb zehn Uhr abends in der Backstube gestanden, die Schicht ging bis sechs in der Früh. Dann kündigten ihm zwei junge Bäcker von heute auf morgen, 24 und 25 Jahre alt. Sie könnten sich nicht vorstellen, ihr Leben lang in der Nacht zu arbeiten. 2021 war das. Und auch zwei Lehrlinge sagten, sie würden die Arbeit mögen, aber das ewige Nachtarbeiten nerve sie, sie wüssten nicht, ob sie nach der Lehre weiter als Bäcker arbeiten wollten.

Steinleitner hat überlegt und überlegt und dann beschlossen: Es muss möglichst viel Arbeit am Tag erledigt werden können. Also trennte er die Teigherstellung vom Backen. Die Teige werden tags gemacht, dann ruhen sie, nachts müssen die Backwaren nur noch in den Ofen geschoben werden – das machen freiwillig zwei Bäcker, für die dieser Rhythmus gut passt. So können die elf ­Filialen am Morgen mit frischer Ware beliefert werden. Die ­normale Tagschicht beginnt nun um sechs.

Langes Ruhen macht das Brot besser

Die Arbeitszeiten wurden angenehmer und das Brot ­sogar noch besser: weil der Teig noch länger reifen ­konnte, als er ohnehin schon bei Steinleitners reift. Steinleitner arbeitet mit Natursauerteig. "Wie früher", sagt der Bäcker: In den Teig kommen nur Mehl, Wasser, Salz, wenn nötig Hefe. Die Mikroben im Teig haben viel Zeit, das Mehl umzuarbeiten – das bringt Geschmack und macht das Brot besonders bekömmlich.

Anfangs waren 90 Prozent der Beschäftigten dagegen, die Nachtarbeit auf den Tag zu legen. Vor allem, weil sie nicht auf die Nachtzuschläge verzichten wollten, das waren pro Person bis zu 600 Euro netto im Monat. Also sicherte ­ihnen Steinleitner zu, die Nachtzuschläge aus­zugleichen. Kollegen hätten ihn für verrückt erklärt. Aber unterm Strich habe er nicht mehr Kosten. Weil er, noch eine ­Neuerung, die Öfen nun immer vollmacht: Er backt die für mehrere Verkaufstage benötigten Sorten in einer Charge zur Hälfte vor; für den jeweiligen Verkaufstag wird von dieser Charge dann nur so viel fertig gebacken, wie die Filialen brauchen. Das spart Arbeit und Unmengen an Strom. Heute wolle niemand mehr in die Nacht zurück.

Könnte jede Bäckerei auf Tagarbeit umstellen? Eigentlich schon, meint Steinleitner. Von Vorteil sei natürlich, viel Kühlfläche zu haben, weil die Teige lange ruhen. Aber ansonsten? "Es braucht halt mehr Teiggefühl." Noch muss es sich herumsprechen, dass man bei ihm nicht nachts arbeiten muss, aber er hat schon einige vielversprechende Anfragen von jungen Leuten erhalten.

Legen Akademikereltern ihren Dünkel ab, haben ihre Kinder freie Wahl

Zwar entscheiden sich mittlerweile fast die Hälfte der ­jungen Leute nach dem (Fach-)Abitur statt für ein ­Studium lieber für eine berufliche Ausbildung – nur eben nicht ­unbedingt im klassischen Handwerk. Vielmehr wählen sie kaufmännische Berufe oder Augenoptik, Fotografie, Mediengestaltung . . .

Der Zentralverband des Deutschen Handwerks fährt derzeit eine Imagekampagne fürs Handwerk. Auf einem der Plakate eine junge Frau mit leicht trotzigem Blick, ­daneben groß der Satz: "Was gegen Handwerk spricht? Meine Akademikereltern."

Johannes Oh-Havenith hat sich gegen seinen Vater durchgesetzt. Der Vater ist Chefarzt. Sohn Johannes brach mit 17 das Gymnasium ab, hing zu Hause rum ohne Plan, kiffte viel, machte schließlich drei Freiwilligenmonate in Slowenien in einem sozialen Projekt, sah dort, wie schlecht sich die anderen Freiwilligen in seiner WG ernährten ("nur Nudeln"), fing an, für sie zu kochen, preiswert, aber mit Gemüse – und kam nach Deutschland zurück mit dem Wunsch, Koch zu werden.

Daraufhin "knallte es" zwischen Vater und Sohn, oft. Erzählt der Vater. Heute schäme er sich für sein Denken und Verhalten damals. Für seinen Dünkel. Dass er fand, der Sohn sei "viel zu intelligent" für so einen Beruf, der Sohn müsse studieren. Dass er nicht das Vertrauen in den Sohn hatte, dass der seinen Weg findet. Er verstand nicht, dass der Sohn anders ist, als er selbst in dem Alter war. Der Vater hatte vor lauter Wissbegier gleich mehrere Studienfächer mit Examen abgeschlossen.

Heute sagt der Vater über den Sohn: "Er hat früh eine andere Reife gehabt als ich, im Grund ist er dem Leben viel näher. Er ernährt Menschen." Er bewundert, wie der Sohn mit gerade mal 24 schon ein ganzes Restaurant managt und am Wochenende 200 bis 300 Essen kocht, nur mit einem Leihbeikoch und zwei tadschikischen Helfern. Aber der Vater ist wegen der Arbeitsbedingungen auch in Sorge um sein Kind: "Das ist so furchtbar hart, nur Männer, wie im Krieg, lange Arbeitszeiten, schlecht bezahlt, nervlich anstrengend, Arbeit im Sekundentakt."

Gute Arbeit freundlich einfordern – geht doch, sagt der junge Koch

Ja, er arbeite viel, sagt Sohn Johannes, 60, 70 Stunden in der Woche. Seit kurzem ist er Küchenchef. Immerhin bekomme er die Überstunden von den Restaurantbesitzern bezahlt, das sei völlig unüblich in der Gastronomie. "Hätte ich mir ein angenehmes Leben gewünscht, hätte ich was anderes gemacht; aber das wäre ja langweilig."

Er sei glücklich gerade. Büro würde für ihn nicht funktionieren. Schon mit der Schule war er sehr unzufrieden. Auch deswegen habe er viel Gras geraucht. "So süchtig, wie ich nach Drogen und Medien war, war es gut, dass der Beruf mir all meine Zeit und Energie wegnahm. Das Kochen ist eine unfassbar heilsame Tätigkeit. Die Konzentration, die man dafür braucht! Das Feingefühl, das man am Gemüse trainieren muss. Ich bin froh, dass ich mit 17 angefangen habe, effektiv Dinge zu tun."

Seine Ausbildung in der Sterneküche sei hart gewesen. Hart war, dass er damit konfrontiert wurde, wenn er was schlecht gemacht hatte. "Das war das erste Mal, dass es eine Bedeutung hatte, wenn ich etwas nicht gut machte. Die Schulnoten waren letztlich egal gewesen. Aber dem Chefkoch darf es nicht egal sein, wenn ich schlechte Arbeit mache." Was er aber für unnötig hält: dass man angeschrien und manchmal auch mit Sachen beworfen wird.

Das mache er anders, als 24-jähriger Chef. Er sage ­seinen beiden tadschikischen Helfern durchaus, wenn die Salate, die sie anrichten, "scheiße aussehen". Zu symmetrisch! Die Kräuterspitze mittig obendrauf! Geht gar nicht. "Chaos sieht lecker aus. Ungerade Zahlen sehen lecker aus. Aber das verstehen meine Leute nicht, sie sind ja keine gelernten Fachkräfte. Jetzt sieht der Salat halt manchmal schlecht aus, dafür sind meine Leute glücklich."

Bloß kein "ausgebranntes Arschloch" werden!

Sein Traum: zwei Restaurants nebeneinander. Eins davon eine Art "Suppenküche" für Leute, die nicht mehr als fünf Euro ausgeben können, am besten mit einem wohl­tätigen Träger, dort würden viele Leute ausgebildet. Im anderen gäbe es "anständiges Essen mit kreativem Anspruch". In 15 Jahren habe er vielleicht das ­Fachwissen dafür, das nötige Startkapital und genug Freunde, die ihm helfen. Denn das weiß er längst: "Ein Restaurant zu ­betreiben, ist ein sehr schlechtes Geschäftsmodell. Außer man verkauft Döner, Pizza, Pasta. Je besser man kocht, desto schlechter ist die Bilanz. Weil man einen höheren Warenaufwand hat und besseres Personal braucht."

An einem vor allem wolle er noch arbeiten: "Wie ich mein Leben als Koch nachhaltig aufbaue. Damit ich in zehn Jahren nicht ein ausgebranntes Arschloch bin. Solche Exemplare habe ich genug kennengelernt."

Mit einem einzigen Mitschüler vom Gymnasium ist er weiterhin befreundet. Der hatte unfroh eine Ingenieurwissenschaft studiert, saß dafür meist vor dem ­Computer, brach schließlich das Studium ab. Jetzt lernt er Mechatroniker für Kältetechnik. Und sei glücklich, Johannes Oh-Havenith zitiert ihn: "Endlich mach ich was, was man sehen und anfassen kann."

Ein Studium macht nicht alle froh

Ein Studium zahlt sich fürs Lebenseinkommen ­meistens aus. Aber man kommt auch mit den Fortbildungen ­"Meis­ter" oder "Techniker" oder "Fachwirt" weit. Je komplexer die Aufgaben, je größer die Personalverantwortung, desto höher in der Regel die Entlohnung. Allerdings gibt es zwischen den Berufsgruppen große Unterschiede: Eine Gastronomie mit Anspruch zu leiten oder eine Kindergruppe fördernd zu betreuen, das sind herausfordernde und verantwortungsvolle Aufgaben, entlohnt werden sie trotzdem vergleichsweise gering, trotz Personalnot.

Ein Studium macht aber auch nicht alle froh. Ein Viertel bricht wieder ab, meist nach schweren Zeiten des ­Zweifelns und auch der Scham. Wenn die jungen Leute dann vor einem Berater wie Sven Hartwig von der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main sitzen, fließen oft erst einmal die Tränen. Hartwig hilft ihnen, einen anderen Weg ins Berufsleben zu finden.

Allerdings wollen "gefühlt 99 Prozent" am Anfang eine Schreinerlehre machen. Sie stellen sich eine Schreinerei vor wie in der Kinderfernsehserie "Meister Eder und sein Pumuckl": Da werkelt Meister Eder in winziger Werkstatt im Schein einer einzigen Lampe einen halben Tag lang am Auswechseln eines Nachtkästchenscharniers ­herum. ­Heute sind die Werkstätten groß, in der Regel sind sie ­kleine Fabriken voller Maschinen, darunter Pressen für die Beschichtung, große Fräs- und Hobelmaschinen; viele der Maschinen arbeiten computergesteuert, und ­ent­worfen wird nicht mehr mit Bleistift, sondern mit ­digitalen ­Programmen.

Am Ende finden die meisten doch zu einem anderen der über 130 Handwerksberufe. Manche unterschreiben schon gleich im ersten, eigentlich nur zur Orientierung gedachten Praktikum einen Ausbildungsvertrag, weil es ihnen dort so gut gefällt. Und sie werden gern genommen. Denn sie haben schon einen Lebensweg hinter sich und trotz des Gefühls, versagt zu haben, vielerlei Kompetenzen erworben – im Studium, in den Jobs, die sie nebenher machten, in ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Weniger Chaos im Betrieb – und ­weniger Leute wollen kündigen

Viele im Handwerk mögen ihre Arbeit. Aber nicht die Arbeitsbedingungen. Fast die Hälfte ist wechselbereit, Hauptgrund: die schlechte Organisation, die nur Stress macht. Das kam in einer Befragung durch das "Handwerk Magazin" und Jörg Mosler heraus. Mosler ist Experte dafür, wie man im Handwerk Mitarbeitende gewinnt und dann auch hält. Am allermeisten, sagt Mosler, treibe das Chaos im Betrieb die Leute in die Kündigung, noch vor mangelnder Wertschätzung und Unzufriedenheit mit der Bezahlung. Wenn sich das ändern solle, müsse man oben anfangen, beim Chef, bei der Chefin.

Die sind im Handwerk oft genug auch nicht allzu glücklich, sondern im "Mädchen-für-alles-Hamsterrad", wie Florian Volkelt das nennt. Volkelt berät Handwerksunternehmen, wie sie Arbeitsabläufe besser strukturieren, damit sich "Arbeitsglück" einstellen möge. "Denn sich um alles kümmern, das Lager aufräumen, jeden ­Mitarbeiter einweisen, 70 Handyanrufe und abends noch Angebote schreiben – das ist doch kein Leben."

Der Chef, die ­Chefin müssten delegieren lernen. "Dafür muss man als ­Mitarbeiter die richtigen Informationen bekommen. Und machen dürfen. Frage also an den Chef: Hast du alles getan, damit der Mitarbeiter seinen Job gut machen kann?" Moderne Managementmethoden, nun kommen sie auch in kleineren Handwerksbetrieben an.

Sanitär- und Heizungsbaumeister Timo Hack, 48, lernt das gerade. Sein Betrieb im südhessischen Nauheim macht viel in regenerativer Energie. 30 Beschäftigte hat er, er könnte drei weitere Fachleute gebrauchen. Kriegt er aber nicht so schnell. Sein Ziel: mit gleich viel Leuten am Ende mehr zu schaffen. Indem er die Abläufe übersichtlicher macht und die Fachkräfte effizienter einsetzt. ­"Warum muss ein gelernter Topmonteur Pakete in den Keller schleppen und auspacken? Das könnte doch ein Helfer einen Tag vorher auf der Baustelle machen, so dass der Monteur am nächsten Tag gleich seine Stärken ausspielen kann." Hilfskräfte seien eher zu finden.

Er selbst wiederum arbeitet zum Beispiel keine ­Reklamationen mehr ab. Das machen die Mitarbeiter, die es verbockt haben – und die dürfen dann auch Entscheidungen treffen. Dafür nimmt er sich die Zeit für 30 ­Mitarbeitergespräche. Nicht so üblich im Handwerk.

Nur in eine Richtung schaut er nicht, wenn er neue ­Azubis und Fachkräfte gewinnen will: Frauen. "Die Arbeit ist zu schwer", sagt er. Nicht dauernd schwer, aber immer mal wieder.

Gelenke ruinieren muss nicht sein. Mit Exoskelett geht vieles leichter

"Aber Männer finden es heute auch nicht mehr so toll, sich den Rücken kaputtzumachen", sagt Christina Völkers von der Handwerkskammer in Stade, wo sie die Frauen­förderung koordiniert. Und es gibt für viele schwere Arbeiten mittlerweile Maschinen – einen elektrischen Treppensteiger etwa, der schwere Thermen die Treppen hochbringt. Oder Exoskelette.

Das sind Außenskelette wie die von der Firma Ottobock. Man zieht sie wie einen Klettergurt an und wird fortan unterstützt. Im Handwerk erleichtern sie bislang vor allem das Überkopfarbeiten – wenn man Sprinkler befestigt, Decken streicht oder Kabel über Kopf verlegt. Man muss dann nicht das Gewicht der Arme und der Geräte tragen, sondern kann die Arme bequem in Halterungen ablegen, das Gewicht wird dann von den Schultern auf die Hüften geleitet. Sieht futuristisch aus, ist aber rein ­mechanische Seilzugtechnik.

Aber wer schnallt sich so ein Teil um? Nadine Bernhardt, die Sprecherin des Kooperationspartners Hilti, sagt: "Es ist anfangs ungewohnt, aber dann ist es für die Leute immer ein Erlebnis. Sie sagen: Hey, ich kann ja auf einmal abends noch Sport machen!" Kürzlich befragte Hilti Betriebe, die Exoskelette gekauft hatten (Stückpreis etwa 1800 Euro): Ist es euch unangenehm, wenn andere sehen, dass ihr das anhabt? 90 Prozent der Männer sagten: Mir doch egal. Denn sie schaffen mehr und sind am Ende ­weniger kaputt. Kurzum: Exoskelette könnten ein ­Mittel sein, um Fachkräfte länger im Beruf zu halten. Oder Frauen den Weg in Handwerksberufe zu ebnen.

Frauen können Handwerk – oft sogar ganz hervorragend

Und sollte es mal wirklich kein Gerät geben für ­schwere Arbeit, "dann hilft man sich doch untereinander, die ­Jüngeren machen das längst so", hat Christina Völkers von der Handwerkskammer Stade beobachtet. Frauen würden auch gern unterschätzt. Denn dass sie körperlicher ­Belas­tung gewachsen sind, bewiesen sie ja nun täglich in den Pflegeberufen.

Falsch auch die Behauptung, man könne keine Frau einstellen, weil man dann eine zweite Toilette einrichten müsste. Muss man nicht. Seit Jahrzehnten steht im Gesetz: Toiletten und Waschräume müssen getrennt benutzt ­werden können. Gibt es einen Schlüssel, ist alles okay.

Dass zuletzt endlich doch Frauen in männlich dominierten Handwerksbetrieben auftauchten, kam für die Frauenförderin Christina Völkers unerwartet, nach so vielen Rückschlägen. Es hatten ja bereits in den 80er ­Jahren Initiativen der Frauenbewegung fürs Handwerk geworben, erzählt Völkers, "dann sind die jungen Frauen ins Handwerk gegangen – und ganz schnell wieder raus". Sie wurden nicht ernst genommen, stattdessen sexistisch bedrängt. "Da war erst mal verbrannte Erde."

Anfang der 2000er Jahre begann dann der Fach­kräftemangel im Handwerk deutlich zu werden. Das Image der Berufe war schlecht. Immer mehr Söhne wollten den Betrieb nicht übernehmen. Auf einmal fragten Väter, die noch nie eine Frau eingestellt hatten (außer fürs Büro), ihre Töchter. "Da wurden die ersten Frauen im Handwerk sichtbar", sagt Völkers "die hatten es nicht leicht, aber sie haben was aufgebrochen. Die sind jetzt zwischen 45 und 55 Jahre alt." Seit wenigen Jahren sieht sie eine neue Generation: junge Frauen, die vorher keinen Bezug zum Handwerk hatten. Die selbstbewusst sind. Und richtig gut.

Wieso langweiliges Büro, wenn auch spannendes Dach möglich ist?

So wie Nina Weber in Erden an der Mosel. Sie hatte Fach­abitur gemacht, wollte aber nicht studieren – "ich bin nicht so der krasse Lerntyp". Stattdessen machte sie eine Ausbildung beim Versicherungsberater ihrer Eltern. "Auf dem Land geht frau ins Büro", sagt sie trocken. Langweilig war ihr da. Vielleicht doch was Handwerkliches? Sie hatte immer gern in der Hobbywerkstatt des Vaters gewerkelt. Das Dorf ist klein, 400 Leute, man kennt sich, "mach doch ein Praktikum bei uns", sagte Anne Berg vom örtlichen Dachdeckerbetrieb.

Das Praktikum gefiel Nina Weber. Und es macht sie glücklich, dass sie sagen kann: "Ich hab die Kirche hier im Dorf gedeckt." Der Betrieb Berg Dach + Schiefer deckt zu 80 Prozent Schieferdächer, oft von Kirchen oder denkmalgeschützten Villen. Jetzt ist die 26-Jährige Gesellin. Genauer: Sie ist Deutschlands zweitbeste Dachdeckerin. Denn vergangenes Jahr hat sie beim Leistungswettbewerb des Deutschen Handwerks den zweiten Platz gemacht. Auch den ersten Platz errang eine Frau. Nächstes Jahr reisen die beiden als Team Deutschland zur Dach­decker-Weltmeisterschaft.

Für Dachdeckermeister Markus Berg, 42, war Nina die erste Auszubildende in seinem Betrieb, aber er und ­seine Frau probieren gern was aus, erzählt er. Natürlich sind sie auf Instagram; und schon seit zwei Jahren verteilen sie die Wochenarbeitszeit auf vier Tage. Denn es gebe ja noch was anderes im Leben als Arbeit, sagt Markus Berg, seine Kinder zum Beispiel. Er findet Tradition wichtig, aber auch Technik auf der Höhe der Zeit und natürlich Arbeitsschutz. Jüngst haben sie einen riesigen Autokran mit Elektroantrieb gekauft, der bringt alles Material an jede beliebige Stelle auf dem Dach. Er achte auch darauf, dass er lobt. So einen Choleriker, wie er ihn selbst als Chef gehabt hatte – "das geht gar nicht mehr".

Nina Weber hat inzwischen den Staplerschein gemacht, den Kranschein, einen Bleilehrgang für runde Gauben, Vorarbeiterseminar, Reetdachdecken, sie kann mit der Drohne Objekte abfliegen, um Aufmaße zu erstellen – und jetzt ist sie für neun Monate im Meisterlehrgang. Mit dem Stipen­dium, das sie als Preis im Wettkampf gewonnen hatte.

Ist sie nun eigentlich schwächer als die Männer? Sie lacht und erzählt: Neulich sollte der Azubi Eichenbretter tragen. Schaffte er nicht. Sie aber.

Wenn jetzt noch Teilzeit im Handwerk möglich würde, das wär’s, sagt Frauenförderin Christina Völkers in Stade, ­damit wäre den Müttern geholfen (denn die sind es allermeist, die für die Kinder reduzieren wollen). Es müssten doch gar nicht immer alle mit auf die Baustelle, sagt Völkers, sondern dann ist eine Handwerkerin eben Kundendiensttechnikerin, das lässt sich gut terminieren. "Die Handwerksbetriebe müssen sich bewegen. Sonst können sie dicht­machen. Es ist dumm, auf Frauen zu verzichten."

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