Mutanfall statt Wutanfall (Matthias Horx)
Plädoyer für einen anderen Umgang mit sich selbst, der Krise und der Zukunft
Die Welt ist voller Wutanfälle. Rund um die Uhr rasten Menschen aus. Brüllen sich an. Denunzieren sich, verachten sich, rufen einander „halt die Fresse“ zu, um dann selbst den Mund gigantisch aufzureißen. Aus dem Internet quillt eine Mischung aus Angst, Wut und Hass in die Wirklichkeit, die alles zu verseuchen scheint. Alles erhitzt sich. Deshalb funktionieren manche Menschen, ja die ganze Gesellschaft, wie ein Druckkochtopf. Die Temperatur steigt, der Druck auch. Da der Topf viele Jahrzehnte alt ist, weiß man nicht, ob das Ventil nicht längst verrostet ist und dem zunehmenden Druck Stand hält.
Dieser Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von Matthias Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: https://thefutureproject.de/
Das ist die Lage. Und zugleich ein Lebensgefühl: Die Luft, die Welt ist gefüllt mit Negativität. Demonstrationen, Proteste, „Meinungen“ aller Art sind fast nur noch GEGEN etwas und jemanden gerichtet. Kaum noch findet man ein Dafür. Das Wort, das in einem unerträglichen Jammerton, ständig wiederholt wird, heißt Problem. Problem Problem Problem Problem Problem.
Aus dem Großen Ganzen ist das Grobe Ganze geworden, das in seine Einzelteile zerfällt.
Die Zukunfts-Verantwortung
Ich finde, wir haben als Weltbewohner, als Zukunftswesen, eine verdammte Pflicht zum Mutig sein.
Mut ist kein Heroismus, sondern eher das Gegenteil: Einen geschickten Rückzug vom Problem anzutreten, der gleichzeitig ein Schritt in die Zukunft ist. Mut überschreitet die Alternativen von „Flüchten“ oder „Kämpfen“, die uns die Evolution als grundlegende Verhaltensmuster mitgegeben hat, in eine andere Dimension.
Mut ist eine mentale Stärke. Sie beginnt damit, aus dem herrschenden Jammerdiskurs auszusteigen und sich von ihm nicht mehr betonisieren zu lassen. Und dann den RAHMEN unserer Wahr-Nehmung zu verschieben.
- Wir richten unseren Blick in eine andere Richtung.
- Und sehen, spüren ganz andere Zusammenhänge.
- Wir erleben eine andere Welt.
- Eine Welt der mutigen Lösungen.
- Etwas kann anders werden.
- In Wirklichkeit.
Der Politische Mutanfall
Hier einige großartige Mutanfälle im politischen Bereich – schicken Sie mir gerne mehr:
- Der albanische Ministerpräsident Edi Rama, ein Künstler, der seit mehr als einem Jahrzehnt im Amt ist, wollte etwas gegen die durchwegs pessimistische Opfer-Stimmung in seinem Land machen. Als er noch Bürgermeister von Tirana war setzte er das Projekt THE COLORS OF TIRANA in Gang. Kaufte hunderte von Tonnen bunter Farbe und verteilte sie an die Bevölkerung der grauen postsozialistischen Hauptstadt Albaniens. Eine quietschbunte Stadt entstand. Die Fassaden der Plattenbauten glänzten in allen möglichen Farben und Formen, nicht immer sehr geschmackvoll, aber eben BUNT! Etwas erhellte sich in der Stimmung der Bewohner, was bis heute nachwirkt. Und dazu beiträgt, dass sich das arme, kaputte Albanien langsam zu einem positiven Hotspot entwickelt. Politics by color – ein Mutanfall, der gewirkt hat.
- Die zweieinhalb Millionen-Stadt Medellín, einst die Drogenhochburg Kolumbiens und ein finsteres Banden-Kriegsgebiet, hat in einem „designten“ Transformationsprozess eine Art Heilungstrotz entwickelt. Mit „grünen Korridoren“ durch die Stadt, die die Auswirkungen des Klimawandels moderieren, einem hocheffizienten Seilbahn-Transportsystem und Projekten preiswerter, aber avantgardistischer Architektur wie dem „Medellín Jardin Botanico“. Mit Initiativen für Kunst, Kultur und Sport im öffentlichen Raum und gut durchdachten Investitionen in Bildung und Hochschulen konnte die Gewalt eingedämmt werden. Die Mordrate sank von 6700 im Jahr 1991 auf 375 im Jahr 2023. 2012 wurde Medellín vom Wall Street Journal zur innovativsten Stadt der Welt ernannt.
reasonstobecheerful.world - Mohamed Bousaaidi, im Internet „M069“ genannt, ist ein TikTok-Streamer und ehemaliger Drogendealer, der sich selbst in einen Influencer-Streetworker verwandelt hat. Heute verbreitet er positive Energie in einem als hoffnungslos angesehenen Hotspot des Elends, dem Frankfurter Bahnhofsviertel. Er kümmert sich um Obdachlose und Suchtkranke und hat eine regelrechte Charity-Welle losgetreten, die inzwischen 118 ehrenamtliche Helfer und gut 20.000 Follower zählt.
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Auf der philippinischen Insel Mindanao gab es 2018 einen islamistischen Terrorismus-Krieg, der mehr als 1200 Todesopfer forderte. Rommel Arnado, der Bürgermeister der Stadt Kauswagan, die das Epizentrum der Angriffe war, schaffte es, hunderte islamistische „Terroristenrebellen“ mit Hilfe des Projektes „From Arms to Farms“ in friedliche Biolandwirte zu verwandeln. Das Programm war so erfolgreich, dass die bewaffneten Kämpfe in der Region, die einem echten Bürgerkrieg ähnelten, heute abgeflaut sind.
Die Beispiele vereint, dass sie einem Mut entspringen, die Ebene des Problems zu verlassen, aber gleichzeitig „dran“ zu bleiben. Der Rahmen des Problems wird verschoben. Und dadurch geraten die Paradoxien, die das eigentliche Problem ausmachen, ins Tanzen.
Die wirklichen Probleme lassen sich nie auf der Ebene und mit den Mitteln lösen, mit denen sie entstanden sind. Paul Watzlawick, der Psychologe und Philosoph des Konstruktivismus, sprach von zwei möglichen Wandelformen. Auf der ersten Ebene: Inkrementeller Wandel, die Korrektur innerhalb eines Systems. Beim Fahrradfahren müssen wir immer ein klein wenig korrigieren, sonst geht es nicht geradeaus. In einem Unternehmen müssen wir immer wieder etwas „umstellen“, um am Markt zu bleiben. Bei festgefahrenen Systemen kommt man damit allerdings nicht weiter. Dann hilft nur der Sprung auf die zweite, die transformatorische Ebene.
Bei Veranstaltungen schlage ich – wenn mir das ewige Anspruchsjammern auf die Seele drückt – manchmal vor, dass jeder einmal nur im Sinne von Möglichkeiten sprechen soll. Aus einer Zukunft heraus erzählen soll, wie das Problem aufgelöst wurde.
Das führt erst einmal zu betretenem Schweigen.
Aber dann passiert manchmal etwas Wunderbares.
Die Welt sieht plötzlich ganz anders aus, wenn man sie aus „Gelöstheiten“ sieht.
Man kann jetzt in guter alter Nörgelmanier einwenden, dass die Probleme bei den vier Beispielen ja nicht vollständig „gelöst“ wurden. Es gibt immer noch Junkies im Frankfurter Bahnhofsviertel. Morde in Medellin. Manchen Missmut in Albanien. Und „wer weiß, ob islamische Biobauern wirklich welche bleiben …“.
Hier liegt ein weiterer wichtiger Mutaspekt: Der Mut, auf Perfektionsansprüche zu verzichten. Also auf „Lösungen“, die absolut sind. Hinter dieser Forderung steckt nämlich der Teufel. Der bösartige Populismus nutzt diesen Hang zur Total-Lösung aus, der Leute zu Furien und Idioten macht.
Es geht beim Zukunfts-Mut auch darum, der Welt zu vertrauen, dass sie sich weiterentwickeln kann. Probleme lassen sich in Wahrheit nie vollständig „lösen“. Sie lassen sich aber in Entwicklungen auflösen, an denen wir beteiligt sind.
Man kann jetzt einwenden, dass das ja nur sehr wenige Beispiele sind. Die schrecklichen Tendenzen der Wut und des Hasses sind doch viel, viel, viel, viel größer – oder?
Auch hier hilft es, die Blickrichtung zu verändern.
Das Großartige im Kleinen
Mutanfälle sind nicht auf die politische Arena beschränkt. Gerade im Kleinen, im Persönlichen sind sie besonders großartig. Und unfassbar zahlreich.
Wenn wir uns verlieben (oder besser: in die Liebe gehen), erhöhen wir den Energielevel der Welt.
Wenn wir eine neue Aufgabe finden, die uns mit Dopamin und Zuspruch zur Welt verbindet, eröffnen wir neue Möglichkeitsräume – nicht nur für uns selbst.
Wenn wir eine Firma gründen, die nicht nur eine Cash-Maschine ist, sondern einen menschlichen Sinn erzeugt, tragen wir zur Komplexität des Universums bei. Es wird uns danken, auch mit Rückzahlungen.
Auch eine Scheidung kann ein Mutanfall sein.
Oder der Prozess der Trauer als innere Transformation.
Wer Kinder „in die Welt setzt“, hat nicht nur Mut, sondern eine ganze innere und äußere Hoffnungsarmada auf seiner Seite. Doing Future Life.
Eine Initiative für das Bessere gründen, die sich nicht kleinkriegen lässt. Als Bürgermeister eine Gemeinde oder Stadt gut regieren. Einem Chor beitreten. NEIN zu Blödsinn sagen. Die Liste der Mutanfälle ist unendlich.
Zum Zukunftsmut gehören bestimmte Tugenden, die etwas schwieriger zu meistern sind als der gemeine Wutanfall oder die verstockte Verzweiflung. Ralf Dahrendorf, der passionierte Liberale, definierte diese so:
- Mut zur Freiheit in Einsamkeit.
- Leben im Paradox.
- Beobachten mit Abstand, aber Engagement.
- Passion der Vernunft.
Transformatorischer Mut ist eher das Gegenteil von Heroismus als dessen kleiner Bruder. Die Kunst ist es, sich von den Problemen innerlich zu lösen, die zu unserer Selbstkonstruktion geworden sind. Wir sind nämlich regelrecht verliebt in unsere Probleme. Wir können sie zu allem (Un-)möglichen verwenden: Vorwürfen. Schuldgefühlen. Anklagen. Abgrenzungen. Unterstellungen. Projektionen. Ideologien. Probleme dienen uns dazu, uns abzukapseln. Die Kunst der Wandlung ist aber das Nichtrechthabenwollen.
Siehe das Buch „Nichtrechthabenwollen“ von Martin Seel, Verlag S.Fischer Wissenschaft
Wenn die Mutanfälle die Wutanfälle übersteigen, entsteht Zukunft. Wenn die Wut gewinnt und zu Hass mutiert, siegt das Dunkle. So einfach ist das. Aber ich vermute, dass Menschen im Grunde mehr zum Mut neigen. Auch wenn es Zeiten gibt, in denen wir uns gegenseitig ent-mutigen.
Das geht vorbei.
„Die Kraft kommt durch das Leben, nicht die Tugend.“
Camus
„Wir leben in einer wahnwitzigen Zeit, die Irren machen die Regeln. Da müssen wir hin und wieder aus dem Fenster klettern.“
Cornelia Funke, Fantastische Autorin, in einem Interview
Hilfreich: SPIEGEL – Angus Hervey „Die vergangenen 25 Jahre“
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